10/25/2020
Arbeit, emotionale Reife, Selbst & Andere
3 Gedanken, die uns bei Meinungsverschiedenheiten helfen
Wir leben in einer Welt, die von Meinungsverschiedenheiten durchzogen ist. Ob in der Liebe, im Familienleben, im Freundeskreis oder in der Arbeit – die Menschen sind über so ziemlich alles uneins: Wie muss die Küche eingerichtet werden? Wer hat Schuld, dass die Projektpräsentation nicht fertig ist, und wer muss das jetzt ausbaden? Wie macht man die perfekte Lasagne? Liegt Ungarn in Ost- oder Mitteleuropa und wie lange dürfen die Kinder samstags Computer spielen?
Obwohl Auseinandersetzungen zivilisiert, interessant und produktiv ablaufen können, sind sie viel zu oft eine unerschöpfliche Quelle des Elends: Wir werden wütend und irritiert; wir sind entsetzt über die Ansichten anderer; wir fühlen uns hoffnungslos und einsam; wir quälen uns, spielen den Konflikt in unseren Köpfen immer wieder durch, machen uns Sorgen, fühlen uns schuldig …
Statt zu verzweifeln, müssen wir akzeptieren, dass die Meinungsverschiedenheiten immer Teil unseres Lebens sein werden. Wir könnten darüber fantasieren, wie sich Weltweit mit einem Schlag die Harmonie durchsetzt und alle Menschen plötzlich vernünftig, tolerant und tiefenentspannt werden. Aber die Uneinigkeit und Feindseligkeit werden nicht von selbst verschwinden.
Wir müssen also lernen, wie wir mit Meinungsverschiedenheiten gut umgehen, wie wir uns in einem Leben zurechtfinden, in dem wir unweigerlich mit vielen Menschen bezüglich unserer Erwartungen, Forderungen, Hoffnungen, Überzeugungen, Prioritäten und Haltungen in Konflikt geraten werden. Wir müssen gut mit Uneinigkeit umgehen können, damit wir in unserem eigenen Leben besser zurechtkommen und unseren Beitrag (wie bescheiden auch immer) zu einer lebenswerteren Gesellschaft leisten können.
Hier sind 3 Gedanken, die uns helfen besser mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen:
1. Meinungsverschiedenheiten sind normal
Im Allgemeinen sehen wir die Beziehungen anderer Menschen nur von außen: Wir sehen Paare, die gemütlich über den Markt gehen und Äpfel kaufen; auf Websites von Unternehmen sehen wir ganze Belegschaften, die geschlossen und enthusiastisch in die Kamera lächeln.
Wir bekommen kaum je zu sehen, wie diese Menschen in ihren heikleren Momenten miteinander umgehen. Was passiert, wenn sie sich über einander aufregen; auf welche Weise sie einander in den Wahnsinn treiben und über welche Kleinigkeiten sie in Streit geraten; mit welcher Leidenschaft und Intensität sie streiten und welch tragisch-komischen Ausmaße ihre Konflikte annehmen können.
Ganz im Gegensatz dazu kennen wir unsere eigenen Beziehungen von innen heraus. Der Unterschied zwischen diesen Perspektiven führt zu einer verhängnisvollen Fehleinschätzung. Unsere Vorstellung davon, wann etwa eine Beziehung oder ein Arbeitsumfeld normal und “gut genug” sind, ist vollkommen verzerrt.
Eine gute Beziehung ist keine Beziehung, in der sich das die Beteiligten immer gut verstehen. Es ist eine Beziehung, in der sie gelernt haben zu akzeptieren, dass schmerzhafte Schwierigkeiten und Frustrationen normal sind.
Wenn wir uns das nicht vor Augen führen, sind wir nicht nur unglücklich, sondern glauben fatalerweise, dass unsere Unzufriedenheit ein Zeichen des Scheiterns ist. Deshalb fliehen wir schnell vor unseren vermeintlich “unnötigen” Schwierigkeiten. Wir verlassen eine Beziehung oder eine Gruppe, beginnen von neuem und landen schnell bei einer anderen Variante derselben Probleme.
2. Wir importieren Energie von anderswo in unsere Konflikte
Selbst beim Diskutieren von recht abstrakten Themen (sei es Bildungspolitik, die Zukunft des Euro, oder amerikanische Innenpolitik) legen wir oft eine Intensität an den Tag, die in keinem Verhältnis zu dem steht, welche Rolle diese Themen in unserem unmittelbaren Alltag spielen. In kühleren Momenten fragen wir uns dann vielleicht, warum wir uns so aufgeregt haben.
Hier haben wir es mit dem Phänomen der aus anderen Lebensbereichen importierten Energie zu tun. In dieser Dynamik kommt der Treibstoff für eine Meinungsverschiedenheit nicht allein aus dem zur Debatte stehenden Thema. Die Intensität kommt von Dingen, die anderswo in unserem Leben passieren. In dem jeweiligen Moment ist uns das oft nicht bewusst, was es sehr schwer macht, eine Meinungsverschiedenheit zu entschärfen.
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Energie wird aus mindestens vier verschiedenen Gründen importiert:
Erstens: Wut wird umgelenkt und konzentriert
Wir sind über etwas oder jemanden verärgert – aber aus irgendeinem Grund findet diese Wut kein gutes Ventil. Es könnte ein Vorgesetzter oder eine Vorgesetzte sein (dem oder der gegenüber wir unsere Verärgerung nicht ausdrücken können). Unser Frust kann auch mehrere Quellen haben: Unser Zug hatte Verspätung, der Schuh tut weh und wir fühlen uns müde – aber es gibt niemanden, den oder die man für all diese Dinge verantwortlich machen kann.
Zweitens: Wir streiten mit der Vergangenheit
Manchmal steht die gegenwärtige Meinungsverschiedenheit stellvertretend für ein Thema aus unserer Vergangenheit. Wir konnten unseren Vater nie dazu bringen, unseren Berufswunsch anzuerkennen, und statt dies mit ihm auszutragen, geraten wir beim Abendessen mit einer völlig unbeteiligten Person aneinander. Unser*e Ex-Partner*in hat uns immer für egoistisch gehalten; jetzt echauffieren wir uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit über Menschen, die sich für irgendwelche naiven politischen Ideale aufopfern.
Drittens: Wir kompensieren ein Gefühl der Erniedrigung
In einer ungleichen Welt haben manche mehr als wir. Es könnte mehr Geld, mehr Status, besseres Aussehen oder mehr Bildung sein, um die wir andere beneiden. Die aufgestaute Angst vor Erniedrigung kann sich in argumentative Aggression umlenken. Im Streit tragen wir unseren Frust über Dinge aus, die sich unserer Macht entziehen.
Viertens: Wir sehnen uns nach Klarheit in einer uneindeutigen Welt
Oft müssen wir mit großen Unsicherheiten und Unklarheiten leben. Wir haben eine tiefe Sehnsucht, Dinge zu finden, die einfach und eindeutig sind. Oft bieten Themen, in denen wir leidenschaftlich überzeugt sind, die perfekte Gelegenheit dazu. Unsere Entschlossenheit ist vielleicht nicht ganz gerechtfertigt – aber wir brauchen nun mal etwas, in dem wir vollkommen Recht haben – gerade wenn man bedenkt, wie unsicher wir in anderen Bereichen sind.
Übertragungen von Energie nicht einfach geschehen zu lassen, ist ein Ausdruck emotionaler Reife. Wir müssen die Emotionen dorthin zurückbringen, wo sie wirklich hingehören. Je mehr uns bewusst ist, dass es zu solchen Übertragungen kommen kann, desto besser erkennen wir sie in unserem eigenen Leben und im Verhalten der anderen.
3. Wir sollten uns von unserer eigenen Rechthaberei lösen
In der Theorie wollen wir Konflikte und Auseinandersetzungen so gut wie möglich vermeiden. Doch es gibt auch eine dunklere Wahrheit: Anstatt uns angesichts von Streit unwohl zu fühlen, fühlen wir uns manchmal sogar sehr gut dabei.
Das ist besonders anschaulich bei politischen Fragen: Man hat die Vorstellung, dass Personen die politisch ganz anders denken als wir, schreckliche Menschen sind: sie irren sich nicht einfach nur, sondern sind auch egoistisch, kurzsichtig, dumm und gefährlich. Was immer man darüber denkt, welche Partei regieren sollte, wie Einwanderungspolitik beschaffen sein sollte oder wie mit dem Atomausstieg zu verfahren ist – all das sind Themen, bei denen Menschen schnell beginnen, aufeinander herabzuschauen. Warum passiert das eigentlich so schnell?
Erster Grund: weil wir viel Bestätigung aus der Auseinandersetzung mit unseren Überzeugungen ziehen. Es fühlt sich gut an, so im Recht zu sein – und wenn unser Gegenüber „dumm und böse“ ist, müssen wir schlau und gut sein.
Zweiter Grund: Die Auseinandersetzung bietet eine bequeme und überschaubare Projektionsfläche für ansonsten diffuse Enttäuschungen. Anstatt sich weitgehend unzufrieden mit dem Leben und sich selbst zu fühlen, gibt es jetzt eine Erklärung: diese schreckliche Person oder diese schrecklichen Menschen.
So viel Spaß Selbstgerechtigkeit auch machen mag, sie ist in ihren Auswirkungen zutiefst deprimierend. Sie bedeutet, dass man tatsächlich die Möglichkeit aufgibt, die Meinung anderer zu ändern oder die eigene Meinung ändern zu lassen. Man weigert sich, zu lernen oder zu lehren.
Um aus einer Position der Selbstgerechtigkeit herauszukommen, müssen wir ein ungewöhnliches Manöver durchführen. Wir müssen uns daran erinnern, wie es war, unsere gegenwärtige Überzeugung nicht zu haben. Wir müssen uns vorstellen, wie es ist, mit sich selbst nicht einverstanden zu sein. Wir sollten uns in jemanden hineinversetzen, der das, was wir für “offensichtlich” halten, vielleicht in keiner Weise offensichtlich findet.
Um das zu üben, können wir uns immer wieder Themen aussuchen, bei denen wir am ehesten das Gefühl haben, absolut richtig zu liegen. Anschließend können wir versuchen, gegen uns selbst zu argumentieren – auf die intelligenteste, raffinierteste und sympathischste Weise, zu der wir im Stande sind.
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