11/23/2018
All, Kultur, Selbst & Andere
Die fünf Dimensionen des Achtsamen Schreibens
Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Buch unserer Dozentin Sandra Miriam Schneider: „Achtsames Schreiben. Wie Sie Klarheit und Gelassenheit gewinnen“ (Duden 2018)
Achtsamkeit ist keine einzelne Eigenschaft und auch keine bestimmte Verhaltensweise. Achtsamkeit ist vielmehr eine Grundhaltung, die verschiedene Eigenschaften und Verhaltensweisen beinhaltet, die sich gegenseitig bedingen und fördern. In Bezug auf die Welt des Schreibens gibt es meines Erachtens fünf achtsame Qualitäten, die besonders bedeutsam sind. Ich nenne sie die fünf Dimensionen des Achtsamen Schreibens: Gegenwärtigkeit, Nicht-Bewerten, Nicht-Identifikation, Anfänger(innen)geist und Selbstmitgefühl.
Die erste Dimension: Gegenwärtigkeit
Die Gedanken sind frei. Manchmal so frei, dass sie tun und lassen, was sie wollen. Monkeymind nennt man das im Kontext der Achtsamkeit. Dieser Affengeist ist natürlich auch aktiv, wenn wir schreiben. Stellen Sie sich kleine Affen vor, die auf unserer Schulter sitzen und gegen die Tippgeräusche ankreischen, während wir auf den Bildschirm vor uns starren und versuchen, uns auf unser Schreiben zu konzentrieren. Die Affen ermahnen uns, auf keinen Fall zu vergessen, die Unterlagen für den morgigen Termin zusammenzustellen, die Geburtstags-SMS noch vor Mitternacht zu schreiben und wenigstens die allerwichtigsten Mails zu beantworten. Sie rufen immer wieder dieses seltsame Gespräch mit unserem Nachbarn in Erinnerung, spekulieren, ob am Wochenende Grillwetter sein wird, wenn unser Besuch kommt, und wollen uns dazu überreden, ein Stück von diesem wunderbaren Gruyère aus dem Kühlschrank zu holen.
All diese Gedanken bestimmen unsere Gegenwart, aber sie beziehen sich nicht auf den gegenwärtigen Moment unseres Schreibens. Vielmehr beschäftigen sich die Affen mit unserer Vergangenheit oder unserer vorgestellten Zukunft. Es passiert nur allzu leicht, dass wir den Ausflügen in die Vergangenheit und Zukunft größere Aufmerksamkeit schenken als dem, woran wir in diesem Augenblick gerade schreiben. Das ist energiezehrend und macht Schreiben unnötig mühsam.
„Wenn du trinkst, trinke, wenn du gehst, gehe.“ Zen-Weisheit
Und wenn du schreibst, schreibe.
Gegenwärtigkeit ist die zentrale Dimension der Achtsamkeit. Im Seinsmodus der Achtsamkeit lenken wir unsere Aufmerksamkeit bewusst auf den gegenwärtigen Moment. Im Fluss des Erlebens nehmen wir unsere Gedanken, Gefühle und Empfindungen wahr. Wir versuchen nicht, das vielstimmige Affengeschrei zu ignorieren oder zu hoffen, dass wir uns daran gewöhnen, sondern wir nehmen es wahr und entscheiden dann, welchem dieser Gedanken wir möglicherweise folgen wollen. Das tun wir bewusst und wenden uns anschließend wieder unserem Schreiben zu. Auf diese Weise muss unser Gehirn nicht gleichzeitig mit mehreren Themenbällen jonglieren. Je geübter wir in der bewussten Lenkung unserer Gedanken sind, desto leichter wird aus diesem anstrengenden Multitasking ein wesentlich entspannteres Monotasking. Unsere Gedanken sind dann tatsächlich frei. Und zwar nicht, weil sie tun und lassen können, was sie wollen und uns auf der Schulter herumtanzen, sondern weil sie sich dem zuwenden, wofür wir uns in Freiheit entschieden haben: unserem Schreiben.
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Der Körper schreibt mit
Achtsame Gegenwärtigkeit bedeutet auch, uns während des Schreibens unseres Körpers bewusst zu sein. Denn auch wenn Schreiben primär eine geistige Arbeit ist, so nimmt unser Körper doch Einfluss auf das, was und wie wir schreiben, ob wir wollen oder nicht. Das Koffein von drei Espresso beeinflusst unsere Fantasie anders als ein stechender linksseitiger Kopfschmerz. Und in großer Müdigkeit am Abend entwickelt sich eine Szene anders als am Morgen nach einer Walkingrunde mit anschließender Dusche.
Bewusst Kontakt zu unserem Körper aufzunehmen, kann besonders dann hilfreich sein, wenn wir sehr intensiv in geistige Welten „abdriften“ und es uns schwerfällt, daraus wieder aufzutauchen. Beispielsweise weil wir zum Abendessen gerufen werden. Denn ganz unabhängig davon, wie sehr wir uns auf das Essen freuen, sind wir innerlich vermutlich immer noch mit dem Text beschäftigt, an dem wir gerade geschrieben haben.
Die achtsame Fähigkeit, die Empfindungen unseres Körpers wahrzunehmen, kann uns in einer solchen Situation als eine Art Übergangsritual dienen. Unser Körper ist dann wie ein Tor, durch das wir aus unserer inneren geistigen Welt wieder zurück in den äußeren Raum zurückkehren. Wir spüren den Stuhl, auf dem wir sitzen, bemerken die leichte Schärfe des mittlerweile fast kalt gewordenen Ingwertees und hören das Lachen unseres Kindes in der Küche. So lenken wir unsere Aufmerksamkeit von der Innenwelt zurück in die Außenwelt und sind wesentlich präsenter, wenn wir die Küche betreten und unser Kind in den Arm nehmen.
Ein Ziel von Gegenwärtigkeit ist es, unsere Aufmerksamkeit bewusst und souverän auf das Innen oder das Außen lenken zu können. Je mehr wir in Gegenwärtigkeit trainiert sind, desto besser können wir uns auf das Schreiben selbst konzentrieren und umso leichter fällt uns das Ein- und Auftauchen.
Was Gegenwärtigkeit nicht bedeutet
Gegenwärtigkeit bedeutet hingegen nicht, dass wir unsere Schreiberfahrungen der Vergangenheit ignorieren sollen, kein Schreibziel haben dürfen oder uns motivierende Zukunftsszenarien verbieten sollen.
Gegenwärtigkeit bedeutet vielmehr, unsere Erfahrungen bewusst zu reflektieren, um sie für die Gegenwart unseres Schreibens fruchtbar zu machen. Es bedeutet, unsere Schreibziele und Motivationen auf aktuelle Stimmigkeit zu überprüfen, damit sie ihre Kraft entfalten können. Denn natürlich ist die Vorfreude auf Tag X wunderbar, wenn wir diese verflixte Erzählung endlich zu Ende geschrieben haben werden und wir dies mit unserer Schreibgruppe bei Tapas und einem besonderen Rioja feiern (denn unsere Geschichte spielt in Spanien).
Stop and Flow
Abschweifende Gedanken in die Vergangenheit und in die Zukunft können außerdem Ursache für ernst zu nehmende Schreibhemmungen sein. Erinnerungen an schlechte Aufsatznoten beispielsweise, kritische oder ironische Bemerkungen, die sich in unserem Kopf festgebissen haben bis hin zu Ablehnungsmails von Agenturen oder Verlagen. Dazu kommt möglicherweise noch eine Vorstellung, die sich im Laufe der Zeit immer weiter verfestigt hat: die Vorstellung, unseren eigenen sowie fremden Ansprüchen auch in der Zukunft niemals gerecht werden zu können.
Aus diesen Schreibhemmungen kann sich eine manifeste Schreibblockade entwickeln. Die achtsame Fähigkeit der Gegenwärtigkeit wirkt prophylaktisch, indem sie uns darin unterstützt, diese Gedankenschleifen und destruktiv wirkenden Bewertungen wahrzunehmen, anzunehmen und anschließend loszulassen. Wir schreiben immer im Hier und Jetzt. Ganz unabhängig davon, wie die Erfahrungen der Vergangenheit uns geprägt haben und unabhängig davon, welche Erfahrungen wir in der Zukunft machen werden.
Das Gegenteil einer Blockade ist Flow. „Ich bin gerade gut im Flow.“ sagen manche Schreibende, wenn sie gut vorankommen. Dies hat allerdings noch nichts mit dem eigentlichen Zustand des Flow zu tun, wie ihn Mihály Csíkszentmihályi beschrieben hat (Flow. Das Geheimnis des Glücks. Stuttgart 2015). Als Zustand völliger Vertiefung, in dem sich Überforderung und Unterforderung, Spannung und Entspannung in idealer Balance befinden. Im Zustand des Flow gehen wir völlig in unserem Schreiben auf und sind gleichzeitig ganz bei uns. Das reale Zeitempfinden löst sich auf und wir sind auf besonders intensive Weise mit dem Hier und Jetzt des Augenblicks verbunden – ohne Gedanken an Vergangenheit oder Zukunft. Flow lässt sich nicht auf Kommando herbeirufen. Die achtsame Haltung der Gegenwärtigkeit jedoch ist ein fruchtbarer Boden für diese besondere Erfahrung.
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