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Was braucht das Kind in dir heute?

Was braucht das Kind in dir heute?

Theoretisch wissen wir ganz genau, dass es äußerst klug wäre, uns gut um uns selbst zu kümmern und uns selbst mit Mitgefühl, Geduld und Freundlichkeit zu begegnen.

Doch es fühlt sich oft nahezu unmöglich an, die panische, strenge oder kritische Art und Weise, wie wir mit uns selbst sprechen, für einen Moment der Stille und der Fürsorge abzulegen. Es kann uns unendlich leichter fallen, uns aufopfernd um jemand anderen zu kümmern, als unsere Großzügigkeit nach innen zu richten.

Aus diesem Grund kann es hilfreich sein, ein kleines Gedankenexperiment auszuprobieren. Wir können uns vorstellen, dass wir in unserem Alltag in jeder Situation von einem kleinen Kind begleitet werden, von einem*einer ausgesprochen sensiblen Fünfjährigen, der oder die zufällig eine jüngere Version von uns selbst ist.

Stellen wir uns vor, dass wir an einem durchschnittlichen Tag alle unsere Erledigungen in Begleitung eines weitaus aufgeweckteren, verletzlichen, verschlafenen, zarten, niedlichen und sehr schüchternen fünfjährigen Kindes absolvieren müssen.  Das Kind ist mit dabei, wenn wir unsere Präsentation halten, wenn wir dann Kolleg*innen aus der koreanischen Niederlassung treffen, mit ihnen zu Mittag essen und eine Stunde lang Smalltalk halten müssen. Diese kleine Person muss dann mit uns ein schwieriges Telefongespräch mit einem Dienstleister führen, der versuchen wird, uns über den Tisch zu ziehen. Später muss sie auf eine Veranstaltung gehen, auf der sie nicht sehr viele Leute kennt und auf der sie versuchen soll, zu netzwerken. Und dann muss sie mit uns ein Taxi finden oder irgendwie mit einem sehr späten Zug nach Hause kommen.


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Mit Erwachsenenaugen betrachtet, werden diese Herausforderungen wohl kaum viel Aufmerksamkeit oder Mitgefühl in uns auslösen. Wir sind es einfach gewohnt; wir wissen, was wir zu tun haben, und wir werden es irgendwie über die Bühne bekommen. Aber wenn wir es mit den Augen eines Fünfjährigen betrachten, bekommen wir ein besseres Bild von den bedrohlichen und kräftezehrenden Dimensionen dessen, was wir an einem typischen Tag zu bewältigen haben.

Wenn wir uns vorstellen, was es für eine*n Fünfjährige*n bedeuten würde, sich mit einem Raum voller Fremder auseinandersetzen zu müssen oder während einer langen Sitzung höflich stillzuhalten oder einen anstrengenden Nachhauseweg planen zu müssen, bekommen wir einen lebendigeren und genaueren Eindruck von dem, was wir uns gefährlicherweise angewöhnt haben, zu verharmlosen. Wir bekommen ein klareres Bild der Schwierigkeiten, an die wir uns gewöhnt haben, von der tapferen Maske, von der wir vergessen haben, dass wir sie überhaupt tragen.

Das ist wichtig, denn Schmerzen, die wir nicht wahrhaben wollen, haben die Angewohnheit, uns zu sabotieren, bis wir ihnen Aufmerksamkeit schenken. Sie fordern ihren Tribut, auch wenn wir wegschauen und Stärke demonstrieren, und äußern sich in Form von Migräne, Depressionen, Rückenschmerzen und Angst- oder Wutausbrüchen. Wir – oder die meisten von uns – führen ein Leben, das teilweise einfach zu anstrengend ist, um es zu ertragen, aber wir haben vergessen, dies zu verstehen, zu beklagen und uns zu trösten.

Zum Glück sind wir von Natur aus viel besser darin, uns um Kinder zu kümmern. Gegenüber einem oder einer Fünfjährigen wissen wir meist, was zu tun ist; wir verstehen, wo die Gefahren und Belastungen für einen kleinen Menschen liegen können. Wir wissen, worauf wir achten müssen, wenn ein Kind schläfrig ist oder nicht richtig gegessen hat, wir wissen, wie anstrengend es für ein Kind ist, jemanden Neues kennenzulernen oder in der Öffentlichkeit aufzutreten oder sich zu organisieren, wenn es wenig Zeit hat.

Wir sollten uns selbst mit der gleichen Fürsorge begegnen

Unser Herz schlägt für sie. „Die arme Maus“, werden wir vielleicht leise murmeln, wenn wir daran denken, was dieses winzige Wesen zu bewältigen hat und wie viel Angst oder Müdigkeit es empfinden könnte.

Diese zärtliche Sorge sollten wir auch auf uns selbst übertragen: Auch wir sind schließlich zum Teil fünf Jahre alt, auch wir werden manchmal müde, traurig, verwirrt und sehr, sehr ängstlich. Und wir leiden umso mehr darunter, weil wir uns nicht erlauben, dies klar zu erkennen, weil wir annehmen, dass wir erwachsener sind als wir sind.

Wenn wir in Zukunft einen durchschnittlichen Tag betrachten, sollten wir uns einen Moment Zeit nehmen, um uns einige bewusst naiv klingende und wohlwollende Fragen zu stellen:

– Wie würde ein*e Fünfjährige*r mit dem Morgen fertig werden, den wir haben?
– Wie würde er oder sie mit der Mittagszeit zurechtkommen?
– Wie würde er oder sie sich am Nachmittag fühlen?
– Und wie am Abend?

Damit sind wir keineswegs herablassend zu uns selbst. Auf die erwachsenste Art und Weise erkennen wir an, was wir den zerbrechlicheren, früheren Teilen von uns schuldig sind. Wir werden ein gerechteres, ruhigeres, freundlicheres Erwachsensein erlangen, wenn wir mit Anmut akzeptieren, wie nah wir dem zarten, sensiblen, zu Tränen neigenden kleinen Menschen bleiben, der wir einmal waren.


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