08/13/2022
All, Arbeit, Selbst & Andere
Wie man endlich anfängt
Man glaubt schnell, dass es für in Paris lebende Künstler ein großer Vorteil sein muss, den Louvre vor der Haustür zu haben. All diese Inspiration. Sie können jederzeit hingehen und die Werke der größten Meister sehen.
Da kann es ziemlich überraschen, dass einige der interessantesten Künstler*innen sehr gemischte Gefühle für das Museum hegten. Corot, Camille Pissarro, Apollinaire, Braque, Picasso, Gauguin, Léger, Duchamp – sie alle hatten zu verschiedenen Zeiten in ihrem Leben die gleiche Sehnsucht, den Louvre bis auf die Grundmauern niederzubrennen. Sie waren keine Vandalen oder Barbaren. Ihnen war einfach schmerzlich bewusst, wie sehr die vollendeten und majestätischen Kunstwerke aus der Vergangenheit ihnen das kreative Selbstvertrauen raubten. Solche Meisterwerke lassen die eigenen Bemühungen mickrig erscheinen.
Denke an ein Bach-Konzert oder das verblüffende Zusammenspiel von Worten und Musik in „Hey Jude“, den weißen Garten in Sissinghurst oder die Poesie von E. E. Cummings. Dies sind einige der prestigeträchtigsten und beliebtesten Kreationen der menschlichen Geschichte. Und doch kann unsere Bewunderung seltsamerweise zu einem großen Hindernis werden, jemals eine ausreichend gute Lösung für die Aufgaben in unserem eigenen Arbeitsleben zu finden.
Stell dir vor, du interessierst dich sehr für Malerei, weil du dich in einige der Werke Raffaels verliebt hast.
Du siehst Dir seine Gemälde bei jeder sich bietenden Gelegenheit an. Doch das kann sowohl aufregend als auch deprimierend sein. Sie sind so anmutig, so einfach, so leicht – jede Linie ist genau so, wie sie sein sollte. Und dann denkest du an die eigenen, sehr bescheidenen Bemühungen. Die Flecken, die ungeschickten Stellen, das Bild, das als Porträt Ihrer Katze begann und dann als Bild einer Sturmwolke endete. Nach einem Besuch in der Nationalgalerie setzt du dich hin, um eine Zeichnung zu machen – und fühlst dich gelähmt. Was immer du tust, es ist garantiert falsch. Deine Liebe zum Ideal lässt es erschreckend und demütigend erscheinen, selbst etwas zu probieren.
Menschen, die nicht wissen, wo sie anfangen sollen, sind oft Perfektionisten. Es ist ein ehrenwertes Problem: Sie tun nichts, nicht, weil sie faul sind, sondern weil sie sehr ambitioniert sind. Perfektionismus ist eine der Ursachen für das Aufschieben – denn er lähmt uns mit der Sorge, dass wir etwas falsch machen könnten.
Im Allgemeinen können wir erst dann mit der Arbeit beginnen, wenn die Angst, nichts zu tun, endlich die Angst überwiegt, es schlecht zu machen. Solange diese Angst so enorm ist, werden wir nicht viel tun. Es sei denn, wir sind gezwungen anzufangen, weil andernfalls etwas noch viel Schrecklicheres auf uns wartet (wie der Konkurs oder ein Rauswurf).
Um den lähmenden Griff des Perfektionismus zu lockern – und so unsere produktiven Energien zu befreien und effizienter zu werden – gibt es vier Dinge, die wir tun können (ohne Brandanschläge auf französische Kulturdenkmäler verüben zu müssen).
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Erstens: Besuche das Studio, nicht die Galerie
Die Galerie ist der Ort, an dem du das fertige Produkt sehen kannst. Das Studio ist der Ort, an dem man die leidvollen, zerstörten frühen Versionen sieht; die mit den Löchern, weil jemand aus Frust dagegen getreten hat; dort wo es Flecken auf dem Papier gibt, weil der oder die Künstlerin zusammengebrochen ist und geweint hat.
Wenn du Raffael liebst und versuchst, Maler zu werden, dann schau nicht nur auf das fertige Material, sondern auch auf die Skizzen, die all die Mühe zeigen, die nötig war, bevor an Perfektion auch nur ansatzweise zu denken war.
Zweitens: Kaufe eine koreanische Mondvase
Sie ist sehr schön, aber alles andere als perfekt. Es gibt Stellen, an denen mit der Farbe etwas nicht stimmt. Die Glasur ist nicht wirklich gut gelungen. Wenn du genau hinschaust, wirst du alle Arten von Beulen und Macken in der Form entdecken.
Die Vase lehrt uns eine wichtige Lektion: Das Unvollkommene kann immer noch sehr gut, edel und bewundernswert sein. Damit etwas geliebt und geschätzt wird, ist es wirklich nicht notwendig, dass es perfekt ist.
Drittens: Betrachte Europa, den Eismond des Jupiters
Europa ist von Manchester, Nairobi und Moskau gleich weit entfernt (es sind etwa 628 Millionen Kilometer); er hat eine Kruste aus Wassereis und möglicherweise hat er einen Kern aus Nickel. Er umkreist den Jupiter alle dreieinhalb Tage. Wenn du auf Europa leben würdest, hättest du 104 mal so viele Geburtstage wie auf dem Planeten Erde. Auf Europa passiert nicht viel. Im Jahr 2007 kam eine NASA-Raumsonde in etwa 2 Millionen Kilometer Nähe. Von Europa aus betrachtet, die Qualität des Berichts, den du schreibst, die perfekte Reihenfolge der Präsentation, die Brillanz (oder die fehlende Brillanz) deiner Marketingkampagne… nichts davon erscheint besonders wichtig.
Viertens: Untersuche deine Sorgen sehr gründlich
Perfektionismus schürt Ängste. Wenn ich anfange, mache ich einen Fehler und dann passiert etwas Schreckliches. Im Inneren unseres Kopfes befinden sich halb ausgesprochene Ängste, etwa in der Art von: Wenn ich die Präsentation nicht perfekt mache, hätte ich es genauso gut sein lassen können. Wenn ich nicht den bestmöglichen Bericht schreibe, werde ich nie befördert.
Nimm deine Ängste sehr ernst, schreibe sie auf. Untersuche, wie viel Wahrheit in ihnen steckt. Ist es tatsächlich wahr, dass der einzig mögliche Weg beruflich voranzukommen darin besteht, immer perfekte Berichte zu schreiben? Wirst du wirklich entlassen, wenn die Präsentation nur gut genug und nicht brillant ist?
Unser Verstand ist zutiefst irrational in der Art und Weise, wie er Ängste erzeugt. Doch wenn wir die Sorgen aufschreiben, mit denen unser Geist uns unentwegt konfrontiert, können wir sie einer rationalen und wohlwollenden Prüfung unterziehen.
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