10/31/2022
innere Stimme
Wie Nietzsche uns hilft, nicht zu verzweifeln
Seltsam und zugleich faszinierend ist Nietzsches Begeisterung für ein Konzept, das er amor fati nannte, was aus dem Lateinischen stammt und als „Liebe zum Schicksal“ übersetzt werden könnte. Es meint die entschiedene Akzeptanz all dessen, was im Leben geschehen ist. Ein Mensch mit amor fati arbeitet sich nicht reuig an seiner Vergangenheit ab. Er nimmt hin, was passiert ist, das Gute und das Schlechte, das Falsche und das Kluge. Und er tut das mit einer Intensität und allumfassenden Dankbarkeit, die an enthusiastische Zuneigung grenzt.
Die Weigerung, die Vergangenheit zu bedauern und zu retuschieren, preist Nietzsche an vielen Stellen seines Werks als besondere Tugend. In seinem Buch „Die fröhliche Wissenschaft“, das in einer für ihn persönlich sehr schwierigen Zeit entstand, schreibt der Philosoph:
“Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen sondern es lieben”
“Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Großen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!”.
Und ein paar Jahre später schreibt Nietzsche in „Ecce Homo“:
„Meine Formel für die Grösse am Menschen: Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen sondern es lieben.“
In vielen Bereichen des Lebens tun wir genau das Gegenteil. Wir kämpfen gegen negative Ereignisse an – und wehren uns dagegen, ihre Rolle in unserem Leben zu akzeptieren. Wir weigern uns, den Fluss der Ereignisse zu lieben und umarmen. Sehr viel Zeit verbringen wir damit, unsere Fehler zu bilanzieren. Wir bedauern und beklagen die unglücklichen Wendungen des Schicksals und wünschen uns, es wäre anders gekommen. Wir hassen alles, was nach Resignation oder Fatalismus klingt. Wir wollen Dinge verändern und verbessern: uns selbst, die Politik, die Wirtschaft, den Lauf der Geschichte. Darum begehren wir dagegen auf, die Fehler, Ungerechtigkeiten und all das Unschöne in unserer eigenen und der kollektiven Vergangenheit einfach so hinzunehmen.
Nietzsche selbst kennt diesen Trotz nur zu gut. In seinem Werk legt er großen Wert auf Handlung, Tatkraft und Selbstbehauptung. Sein Konzept des „Willens zur Macht” verkörpert genau diese Haltung der Vitalität und Überwindung von Hindernissen.
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Wir müssen viele gegensätzliche Ideen im Kopf behalten und anwenden, um ein gutes Leben zu führen.
Aber er weiß auch – und das macht die besondere Schönheit seines Denkens aus – , dass wir viele gegensätzliche Ideen im Kopf behalten und anwenden müssen, um ein gutes Leben zu führen. In Nietzsches Augen ist es nicht nötig, konsequent zu sein. Wir sollten aber Gedanken zur Hand haben, die unsere Wunden heilen können. Nietzsche fordert uns darum nicht auf, uns zwischen glorreichem Fatalismus und energischer Willenskraft zu entscheiden. Er erlaubt uns vielmehr, je nach Gelegenheit auf die eine oder andere Haltung zurückzugreifen. Er möchte, dass unser geistiger Werkzeugkasten mehr als nur einen Satz von Ideen enthält: Wir brauchen sowohl den Hammer als auch die Säge.
Bestimmte Anlässe erfordern vor allem die Weisheit einer willensgesteuerten Philosophie; andere verlangen, dass wir das Unvermeidliche akzeptieren, ja umarmen, und aufhören, dagegen anzukämpfen.
In Nietzsches eigenem Leben gab es Vieles, was er ändern und überwinden wollte. Er floh aus seiner restriktiven deutschen Familie in die Schweizer Alpen geflohen; er versuchte, der Enge der akademischen Welt zu entkommen und freier Schriftsteller zu werden; er wollte eine Frau finden, die ihm sowohl eine Geliebte als auch eine intellektuelle Seelenverwandte sein konnte.
Aber in seinem Projekt der Selbsterschaffung und Selbstüberwindung lief eine ganze Menge schief. Seine Eltern, insbesondere seine Mutter und seine Schwester, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Ihre, wie er fand, verrückten Haltungen und Vorurteile (vor allem ihr Antisemitismus) schienen sich im gesamten bürgerlichen Europa verbreitet zu haben. Seine Bücher verkauften sich schlecht. Er war gezwungen, Freunde und Verwandte anzubetteln, um sich über Wasser zu halten. Seine zögerlichen, unbeholfenen Versuche, Frauen zu verführen, stießen auf Spott und Ablehnung. Auf seinen Wanderungen durch das Oberengadin und in den Nächten in seinem bescheidenen Holzchalet in Sils Maria muss ihm so manches Wehklagen und Bedauern durch den Kopf gegangen sein: „Hätte ich doch an einer akademischen Karriere festgehalten; wäre ich bestimmten Frauen gegenüber doch nur selbstbewusster aufgetreten; hätte ich doch nur in einem populäreren Stil geschrieben; wäre ich doch nur in Frankreich geboren…“
Amor fati war genau das, was er brauchte, um nach stundenlangen Selbstvorwürfen wieder zur Vernunft zu kommen.
Weil solche Gedanken – die jeder von uns auf seine Weise hegt – so belastend und zerstörerisch sein können, überzeugte die Idee des amor fati Nietzsche umso mehr. Amor fati war genau das, was er brauchte, um nach stundenlangen Selbstvorwürfen wieder zur Vernunft zu kommen. Die Idee beruhigt vielleicht auch uns, um vier Uhr früh, wenn wir seit Mitternacht an uns selbst verzweifeln. Es ist die ideale Haltung, mit der ein unruhiger Geist die Vorzeichen der Morgendämmerung begrüßt.
Auf dem Höhepunkt der amor fati-Stimmung erkennen wir, dass die Dinge gar nicht anders hätten sein können. Denn alles, was wir sind und getan haben, ist in ein Netz aus Konsequenzen gewoben, das seit unserer Geburt besteht und nicht nach Belieben geändert werden kann. Wir erkennen, dass das, was gut und das, was entsetzlich schiefgelaufen ist, zusammengehören. Wir verpflichten uns, beides zu akzeptieren, statt destruktiv zu wünschen, es wäre anders gekommen. Wir wissen, warum wir so unvollkommenen Wesen sind und alles in einem solchen Ausmaß vermasseln mussten. Von Anfang an sind wir auf bestimmte Katastrophen zugesteuert. Am Ende sagen wir unter Tränen, in die sich Trauer und eine gewisse Ekstase mischen, ein großes Ja zum Leben in seiner Gänze, in seinem absoluten Schrecken und den gelegentlichen Momenten überwältigender Schönheit.
In einem Brief an einen Freund, den er im Sommer 1882 schreibt, versucht Nietzsche, die neue Haltung der Akzeptanz, auf die er sich zu stützen gelernt hat, um sich vor seinen Qualen zu schützen, auf den Punkt zu bringen: „Übrigens bin ich von einer fatalistischen Gottergebenheit – ich nenne es amor fati ⎯ dass ich einem Löwen in den Rachen laufen würde…“
Wir sollten lernen, uns ihm dann, wenn wir mal wieder zu viel bereuen, anzuschließen.
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