02/19/2021
emotionale Reife, Kultur
Wie Philosophie uns helfen kann, ein gutes Leben zu führen
Die wenigsten Menschen sind sich im Klaren, was Philosophie eigentlich ist. Aus der Ferne betrachtet wirkt sie recht sonderbar, irrelevant, langweilig und doch auch irgendwie faszinierend. Woher kommt aber diese Faszination? Was sind Philosoph*innen? Was machen sie und wozu braucht man sie?
Zum Glück ist die Antwort schon im Wort Philosophie selbst enthalten. Im Griechischen bedeutet „philo“ Liebe – oder Hingabe – und „sophia“ bedeutet Weisheit. Philosoph*innen sind also Menschen, die sich der Weisheit verschrieben haben.
Auch wenn der Begriff „Weisheit“ recht abstrakt ist, muss er doch kein Mysterium bleiben. Weise zu sein bedeutet, zu versuchen, gut zu leben und zu sterben – ein so gutes Leben zu führen, wie es im Rahmen der stürmischen Bedingungen der menschlichen Existenz eben möglich ist.
Das Ziel der Weisheit ist Erfüllung. Man könnte vielleicht auch „Glück“ sagen, aber dieser Begriff ist irreführend, denn er klingt nach ständiger Fröhlichkeit und Freude. „Erfüllung“ dagegen ist mit einer Menge Schmerz und Leid vereinbar, die jede lebenswerte Biografie notwendigerweise enthalten wird.
Ein*e Philosoph*in ist also jemand, der oder die systematisch nach Wissen strebt, um herauszufinden, wie individuelle und kollektive Erfüllung am besten zu erreichen sind. In ihrem Streben nach Weisheit haben Philosoph*innen eine sehr spezifische Fähigkeit entwickelt: Sie sind im Laufe der Jahrhunderte zu Expert*innen für die zentralen Gründe geworden, die Menschen davon abhalten, weise zu sein. Sechs dieser Gründe lauten wie folgt:
1. Wir stellen keine großen Fragen
Was ist der Sinn des Lebens? Wofür arbeite ich? Wohin bewegen wir uns als Gesellschaft? Was ist Liebe?
Den meisten von uns gehen diese Fragen irgendwann durch den Kopf (oft mitten in der Nacht), aber wir verzweifeln bei dem Versuch, sie zu beantworten. In den meisten Kreisen werden sie als albern abgetan und wir scheuen uns, sie anzusprechen (außer für kurze Momente in unserer Pubertät). Wir haben Sorge für überhebliche Tagträumer*innen und Zeitverschwender*innen gehalten zu werden, wenn wir solche grundsätzlichen Fragen aufwerfen.
Aber diese Fragen sind von größter Bedeutung, denn nur mit fundierten Antworten darauf können wir unsere Lebensenergie sinnvoll einsetzen.
Philosoph*innen sind Menschen, die keine Angst vor den großen Lebensfragen haben. Sie haben im Laufe der Jahrhunderte die allergrößten gestellt. Sie wissen, dass große Themen immer in überschaubarere Teilfragen zerlegt werden können und dass man nur dann überheblich ist, wenn man glaubt, man habe es nicht nötig, sich mit ihnen nicht auseinanderzusetzen.
2. Wir sind anfällig für Irrtümer des Alltagsverstands
Die öffentliche Meinung – oder das, was als „gesunder Menschenverstand“ bezeichnet wird – ist oftmals vernünftig und angemessen. Es ist das, was man von Freund*innen und Nachbar*innen hört, das, was man einfach für wahr hält und das, was man aufnimmt, ohne darüber nachzudenken. Die Medien posaunen solche Ansichten rund um die Uhr heraus. Aber in einigen Fällen ist der „gesunde Menschenverstand“ auch voller Dummheit, Irrtümer und verhängnisvoller Vorurteile.
DASS EINE IDEE WEIT VERBREITET IST, HEISST NICHT, DASS SIE LOGISCH IST
Die Philosophie bringt uns dazu, alle Aspekte des Alltagsverstandes der vernünftigen Betrachtung zu unterwerfen. Sie will, dass wir selbst denken, dass wir unabhängiger werden. Stimmt es wirklich, was Menschen über Liebe, über Geld, über Kinder, über Reisen und über Arbeit sagen? Philosoph*innen sind daran interessiert, zu fragen, ob eine Idee logisch ist – anstatt einfach anzunehmen, dass sie richtig sein muss, weil sie populär und etabliert ist.
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3. Wir sind uns selbst fremd
Wir sind nicht sehr gut darin, zu wissen, was in unserem eigenen Kopf vor sich geht. Wir wissen, dass wir ein Musikstück wirklich mögen. Aber wir können nicht genau sagen, warum. Oder wir finden jemanden sehr nervig, aber wir wissen nicht so recht, woran das liegt. Oder wir verlieren die Beherrschung, können aber nicht ohne Weiteres sagen, was uns so wütend gemacht hat. Uns fehlt die Einsicht in unsere eigenen Vorlieben und Abneigungen.
Deshalb müssen wir unseren eigenen Verstand erkunden. Die Philosophie hat sich der Selbsterkenntnis verschrieben – und ihr zentrales Gebot – formuliert von einem der größten Philosophen, Sokrates – ist nur drei Worte lang: Erkenne dich selbst.
4. Wir haben unklare Vorstellungen davon, was uns glücklich macht
Wir sind fest entschlossen, glücklich zu sein, landen aber in unserem Streben nach Glück regelmäßig auf Abwegen. Wir überschätzen die Kraft einiger Dinge, unser Leben zu verbessern – und unterschätzen andere.
WIR GLAUBEN, DASS BESTIMMTE DINGE EINEN GRÖSSEREN UNTERSCHIED MACHEN WERDEN, ALS SIE ES JE KÖNNEN
In einer Konsumgesellschaft treffen wir oft die falschen Entscheidungen, weil wir uns, geleitet von falschem Glamour, immer wieder einbilden, dass eine bestimmte Art von Urlaub, eine Wohnungseinrichtung, ein Auto, ein Kleidungsstück oder ein Gadget einen größeren Unterschied machen wird, als es das je kann. Gleichzeitig unterschätzen wir den Beitrag anderer Dinge – wie einen Spaziergang zu machen, einen Schrank aufzuräumen, ein strukturiertes Gespräch zu führen oder früh ins Bett zu gehen. Dinge die vielleicht wenig Prestige haben, aber unser Dasein auf tiefe und positive Art prägen können.
Philosoph*innen versuchen die Aktivitäten und Haltungen genauer zu bestimmen, die unsere Leben tatsächlich lebenswerter machen.
5. Unsere Emotionen können uns in gefährliche Richtungen schicken
Wir sind zwangsläufig emotionale Wesen, vergessen diese unbequeme Tatsache aber regelmäßig. Gelegentlich führen uns bestimmte Emotionen – bestimmte Arten von Ärger, Neid oder Missgunst – in ernsthafte Schwierigkeiten. Philosoph*innen lehren uns, über unsere Emotionen nachzudenken, anstatt sie einfach nur zu empfinden. Indem wir unsere Gefühle verstehen und analysieren, lernen wir zu erkennen, wie Emotionen unser Verhalten auf überraschende, kontraintuitive und manchmal gefährliche Weise beeinflussen. Philosoph*innen waren insofern die ersten Therapeut*innen.
6. Wir geraten in Panik und verlieren den Überblick
Wir verlieren ständig das Gefühl dafür, was wichtig ist und was nicht. Wir verlieren – wie man so schön sagt – oft den Überblick. Philosoph*innen sind gerade darin gut, diesen Überblick zu behalten. Als der stoische Philosoph Zenon die Nachricht erhielt, dass er bei einem Schiffsunglück all seinen Besitz verloren hatte, soll er einfach gesagt haben: „Das Schicksal befiehlt mir, ein weniger befrachteter Philosoph zu sein“. Es sind Antworten wie diese, die den Begriff „philosophisch“ zu einem Synonym für ruhiges, langfristiges Denken und Geistesstärke gemacht haben.
PHILOSOPHIE IST DER JAHRTAUSENDE WÄHRENDE VERSUCH, UNSER WENIG WEISES VERHALTEN ZU VERSTEHEN
Das, was wir als „Geschichte der Philosophie“ bezeichnen, besteht aus den über Jahrtausende hinweg wiederholten Versuchen, sich mit unseren unweisen Verhaltensweisen auseinanderzusetzen. So widmete sich zum Beispiel Sokrates im antiken Athen dem Problem, warum es Menschen an gedanklicher Klarheit fehlt. Ihm fiel auf, dass die Menschen nicht recht wussten, was sie mit Schlüsselbegriffen – wie Mut oder Gerechtigkeit oder Erfolg – meinten, obwohl sie die Begriffe ständig verwendeten, wenn sie über ihr eigenes Leben sprachen.
Sokrates entwickelte eine Methode (die immer noch seinen Namen trägt), mit der wir lernen können, unsere Gedanken zu präzisieren, indem wir unsere Ansichten als „Anwalt des Teufels“ hinterfragen. Das Ziel ist nicht unbedingt, die eigene Meinung zu ändern. Es geht vielmehr darum, zu testen, ob die Ideen, die unser Leben leiten, stimmig sind.
Ein paar Jahrzehnte später versuchte der Philosoph Aristoteles, uns in Bezug auf große Fragen zu mehr Klarheit zu verhelfen. Er war der Meinung, dass die besten Fragen die sind, die den Zweck von Dingen hinterfragen. So fragte er über viele Bücher hinweg: Wozu ist die Regierung da? Wozu ist die Wirtschaft da? Wozu ist Geld da? Wozu ist die Kunst da? Heute würde er uns ermutigen, Fragen zu stellen wie: Wozu sind die Medien da? Wozu ist die Ehe da? Wozu gibt es Schulen? Welchem Zweck dient Pornographie?
Im antiken Griechenland waren auch die stoischen Philosoph*innen aktiv, die sich mit Panik beschäftigten. Den Stoikern fiel ein ganz zentrales Merkmal der Panik auf: In Panik verfallen wir nicht hauptsächlich, weil etwas Schlimmes passiert, sondern besonders dann, wenn wir eigentlich damit gerechnet hatten, dass alles gut laufen würde. Also schlugen sie vor, dass wir uns gegen Panik wappnen sollten, indem wir uns an den Gedanken gewöhnen, dass uns Gefahr, Ärger und Schwierigkeiten sehr wahrscheinlich an jeder Ecke begegnen werden.
PHILOSOPHIE IST KEINE EXTRAVAGANTE TÄTIGKEIT, SONDERN PRAKTISCHE HILFE.
Die Herausforderung bei unserer Auseinandersetzung mit Philosophie besteht darin, diese und viele andere Lektionen aufzunehmen und sie in der heutigen Welt anzuwenden. Es geht nicht nur darum, zu wissen, was diese*r oder jene*r Philosoph*in so gesagt hat, sondern darum, Weisheit auf individueller und gesellschaftlicher Ebene in die Tat umzusetzen – und zwar ab sofort.
Anstatt eines abgehobenen, etwas schrägen und optionalen Extras, können wir Philosophie dann als eine ganz normale und grundlegende Tätigkeit ansehen – eine Tätigkeit, die uns jeden Tag hilft, ein weiseres und erfüllteres Leben zu führen.
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