10/17/2020
All, Selbst & Andere
Wie wir besser mit unseren Eltern zurechtkommen
Ein paar von uns haben Glück und kommen gut mit ihren Eltern zurecht. Für die meisten allerdings ist die Beziehung zu Mutter oder Vater Quell andauernder, komplizierter und kräftezehrender emotionaler Konflikte.
Eine häufig gewählte Strategie, das zu ändern, ist der Versuch, die Eltern direkt zu konfrontieren. Vielleicht spüren wir, dass wir allzu lange geschwiegen haben und wollen nun, endlich, zu Wort kommen. Also warten wir einen passenden Moment ab, erklären den Eltern, womit sie uns weh getan haben und inwiefern sie uns noch immer nicht verstehen. Wir legen dar, wie wir aufgrund ihrer Unzulänglichkeiten bereits in unserer Kindheit gelitten haben und wie uns das immer noch einschränkt und vieler Möglichkeiten beraubt.
Unser Versuch ist gut gemeint – aber selten erfolgreich. Statt uns verständig zuzustimmen, pflegen Eltern den Spieß umzudrehen. In einer plötzlichen, demütigend autoritären Aufwallung beschuldigen sie uns, undankbar und unreif zu sein. Möglich auch, dass wir im Verlauf des Gesprächs spüren, wie verletzlich sie sind und wie unfähig, uns zu verstehen, ganz gleich, was wir sagen. Darum ziehen wir unsere Attacke zurück – es wäre einfach unerträglich, ihnen so große Schmerzen zuzufügen.
Manchmal scheint es am vernünftigsten, unseren Eltern einfach für immer aus dem Weg zu gehen
Es kann auch sein, dass es zunächst so wirkt, als wäre die Kommunikation geglückt. Vielleicht bedanken sie sich sogar für unsere Offenheit; aber eine Bemerkung beim nächsten Wiedersehen macht unmissverständlich deutlich: Sie haben rein gar nichts verstanden. Nach einem weiteren, abermals verletzenden Gespräch fühlt es sich dann an, als sei die einzige gesunde Lösung, die bleibt, nie wieder etwas mit diesen belastenden Leuten zu tun zu haben.
Besonders kompliziert wird die Situation, wenn Eltern nicht durch und durch Monster sind, sondern uns zwar in den Wahnsinn treiben, aber auch freundlich oder klug, lustig oder zärtlich sein können, weshalb wir bedauerlicherweise nicht in der Lage sind, sie einfach als „unmöglich“ abzustempeln und zurückzuweisen. Zumal wir uns tief innen vielleicht eine große Liebe für sie bewahrt haben: Da ist die Erinnerung daran, wie sie uns, als wir sieben Jahre alt waren, am Strand halfen, eine Sandburg zu bauen. Die vertrauten Gerüche und Routinen. Wir hassen unsere Eltern, ja, aber was noch verstörender ist: Wir hängen auch sehr an ihnen. Wir wünschen ihnen den Tod an den Hals – und sind am Boden zerstört, wenn sie wirklich weg sind.
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Einfacher wird die Beziehung, wenn es uns gelingt, den Schmerz weniger persönlich zu nehmen. Die Gründe, warum wir mit unseren Eltern nicht klarkommen, sind einerseits individuell, aber – wie befreiend! – zugleich auch universell. Eltern bereiten ihrem Kind viele Probleme; Sie verletzen und belasten es zutiefst – und wollen ihm doch eigentlich nur helfen. Indem sie (aufgrund eigener Erfahrungen und Enttäuschungen) selbst unangemessen reizbar sind, schüchtern sie das Kind ein und machen es ängstlich. Sind sie dagegen besonders sanft und nachgiebig, kann das Kind daran scheitern, seine eigenen aggressiv-egoistischen Tendenzen zu erkennen und zu regulieren. Ist ein Elternteil (aus Sorge) zu kontrollierend, muss das Kind um seine Unabhängigkeit kämpfen und lernt nicht, sich tapfer den Hindernissen zu stellen, die seiner Entfaltung im Weg stehen.
Wir hatten kaum Chancen, ein gesundes Verhältnis zu entwickeln
Unendlich viel können Eltern also falsch machen. Und wir tragen schwer daran. In Wahrheit teilen wir alle aber auch ein ganz universelles Schicksal. Nicht unsere Eltern sind das Problem: Das Problem ist, dass das kindliche Gehirn, ob es will oder nicht, geformt wird von ein paar vom Zufall ausgewählten, mittelmäßig begabten, durch und durch fehlerhaften großen Menschen.
Weil Mutter und Vater eine Generation älter sind, stammt vieles, was sie beeinflusst hat, aus einer Welt, deren Werte, Ängste und Hoffnungen uns fremd oder sogar verwerflich erscheinen – für sie war es schlicht Realität. Zieht man in Betracht, woher unsere Eltern kommen, ist es kein Wunder, dass für sie Geld, Status oder gutes Benehmen wichtig waren, Ehrlichkeit und Vertrauen, Wärme oder Gelassenheit dagegen wenig Bedeutung hatten. Sollten wir selbst einmal Kinder haben, können wir sicher sein, dass sie unsere Einstellungen ganz genauso langweilen, verärgern und erstaunen. Einstellungen übrigens, von denen wir selbst bisweilen gar nicht begreifen, wie sehr sie uns beherrschen.
Es ist wenig überraschend, dass unsere Eltern ein verzerrtes Bild von uns haben
Vielleicht ist es auch gar nicht so überraschend, dass unsere Eltern an einem Bild von uns festhalten, das aus der Kindheit stammt – so lästig uns das heute sein mag. Anders als uns steht ihnen deutlich vor Augen, wie lange wir gebraucht haben, um erwachsen zu werden. Unsere ersten stolpernden Schritte, unsere frühen Versuche, ein paar Wörter zu Sätzen zusammenzufügen, sind für sie immer noch lebendige, zutiefst emotionale Erinnerungen.
Darum ist die Verwunderung, mit der sie zur Kenntnis nehmen, dass wir einen Job haben oder Auto fahren können, auf einer gewissen Ebene genauso verständlich wie ihre Skepsis, ob man uns wirklich erlauben sollte, selbst zu entscheiden, wen wir heiraten oder wo wir wohnen.
Im Umgang mit unseren Eltern versuchen wir etwas nahezu Unmögliches zu schaffen
Ein guter Umgang mit unseren Eltern muss der Erkenntnis entspringen, wie anspruchsvoll eigentlich ist, was wir versuchen, nämlich: mit jemanden gut klar zu kommen, der uns zwangsläufig schaden musste und dessen Sicht auf das Leben niemals mit der unsrigen übereinstimmen wird.
Das klingt resigniert, zeugt aber auch von Reife und geht mit – freilich nicht uneingeschränkten – Hoffnungen einher. Die Beziehung zu unseren Eltern wird einfacher, wenn wir anerkennen, dass bestimmte Situationen nun mal dazu tendieren, schwierig zu sein – so machen wir sie gleich ein wenig leichter. Verbringen wir einen Feiertag mit den Eltern, gehen wir von vornherein davon aus, dass sie innerhalb kürzester Zeit den Finger zielsicher in unsere Wunden legen. Essen wir mit ihnen zu Mittag, ist klar, dass sie das Gespräch auf unseren, wie sie finden, verhängnisvollen Umgang mit Geld oder Liebe lenken. Wir müssen solche Situationen nicht länger fürchten, denn wir verstehen sie und wissen: Sie entziehen sich unserer Kontrolle.
Wir wissen genau, was nicht funktioniert
Wenn wir uns bewusst machen, wie tief das Problem liegt, können wir uns aber auch für einen anderen Umgang damit entscheiden. Wir müssen nicht versuchen, etwas von ihnen zu bekommen, was sie erwiesenermaßen nicht geben können. Wir wissen, dass wir sie niemals dazu zu bringen werden, zu verstehen, welche Sorgen wir als Kind hatten oder weshalb wir einen bestimmten Partner gewählt haben. Wir können uns entscheiden, auf jeden – meist ohnehin vergeblichen – Versuch einer Erklärung zu verzichten. So gut wie möglich konzentrieren wir uns auf die wenigen Bereiche, in denen wir friedlich miteinander umgehen können. Wir erinnern uns daran, dass unsere Eltern gern über ihre Freunde sprechen und stellen ihnen diesbezüglich so viele Fragen wie möglich. Lieben sie Gartenarbeit, führen wir mit ihnen ein Gespräch über ihre Tomatenpflanzen.
Wir planen auch ganz strategisch, wo und für wie lange wir sie treffen. Neigen sie dazu, in Restaurants pingelig und versnobt zu sein, schlagen wir einen Spaziergang auf dem Land vor. Schätzen wir ihre Expertise in Sachen Küchengeräte, fahren wir mit ihnen zu einem Kaufhaus, um uns bei der Anschaffung eines neuen Brotbretts von ihnen beraten zu lassen. Wir sind uns darüber im Klaren, dass wir niemals über Nacht bei ihnen bleiben sollten. Im Wissen all dessen, was schiefgehen kann, besitzen wir die Freiheit, unsere Aufmerksamkeit auf die wenigen Dinge zu richten, die beide Seiten zuverlässig zufrieden stimmen.
Wären sie nicht unsere Eltern, würden wir uns wohl nie mit ihnen anfreunden
Eltern und erwachsene Kinder sind emotional ineinander verwoben, auf komplizierte Weise und aus Gründen, die nichts mit persönlichen Vorlieben zu tun haben. Wir sind durch Geschichte und Biologie – nicht durch Wahl – an ein Wesen gebunden, das ein gottgleicher Riese zu sein schien, als wir klein waren, und dessen Schwächen wir seither auf die detaillierteste und schmerzhafteste Weise kennenlernen mussten. Jenseits von Familien passiert so etwas nicht: Nie sind wir gezwungen, uns auf den Tod mit jemandem zu verbinden, dessen Eigenschaften, Vorlieben, Gewohnheiten und Haltungen von den unsrigen so grundverschieden sind, dass wir uns nicht mal im Traum miteinander befreunden würden.
Letztlich ist es schlicht ein merkwürdiges, aber zuverlässiges Merkmal des Menschseins, lebenslang emotional an jemanden gebunden zu sein, der zugleich ein irritierender Fremder und die Person ist, die Freudentränen vergoss, als wir geboren wurden.
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